Stephan Böni - Untod

untod

Untod
Die Schalen des Zorns

Harmageddon, das biblische Ende der Welt, an dem die sieben Schalen des Zorn Gottes ausgeschüttet werden, ist nahe. Noch befinden sich alle sieben Schalen wie schon seit Jahrtausenden verteilt auf der ganzen Erde verborgen. Doch die Verstecke sind nicht mehr sicher.

Der Roman "Untod - Die Schalen des Zorns" steht kurz vor der Vollendung. Wenn du dich gerne einer packenden Story zuwenden möchtest, ohne lange auf das nächste Kapitel zu warten, dann bist du hier genau richtig.

prologue

Prolog

Viele Jahre zuvor...

Zedekia war ein hagerer, alter Mann. Er lächelte, als er mit festem Griff sein Glas erhob. Gleichzeitig streifte er sich mit dem kleinen Finger der anderen Hand eine Strähne seines langen, weissen Haares aus dem Gesicht.

«Auf Lilith», prostete er dem jungen Jason Tyler zu, welcher ebenso lange, aber pechschwarze und hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene Haare trug.

Lilith, das Nachtgespenst, war die Mutter aller Wesen der Nacht. Laut traditionellem Midrash, einer uralten jüdischen Auslegung noch älterer Überlieferungen, erschuf Gott Adam und Lilith aus dem selben Lehm, um Adam eine Partnerin zu schenken. Gott holte Lilith vor der ersten Nacht noch zu sich und sagte ihr, sie solle Adam Untertan sein und meinte damit, dass sie beim Geschlechtsakt unten zu liegen habe. Doch Lilith akzeptierte dies nicht. Denn der Lehm, aus dem Lilith erschaffen worden war, war durch die Spucke des verstossenen Satans verunreinigt worden. Lilith stritt sich mit Adam und verschwand dann aus dem Paradies in die Wüste. Dort verkehrte sie jeden Tag mit tausend Dämonen und brachte täglich tausend Quälgeister zur Welt. Gott aber befand, dass Adams Einsamkeit nicht gut sei und erschuf ihm Eva aus seiner Rippe.

«Auf Lilith», erwiderte Jason und führte das Glas an seine Lippen. Das tiefrote Getränk glitt über seinen Gaumen. Es war noch warm und schmeckte lieblich. Es war das Blut der jungen Frau, die vor Ihnen auf einem Altar aus hochwertigem weissen Marmor im Sterben lag.

«Exzellent», lobte Zedekia den Geschmack des Blutes und ergänzte: «Das beste Blut stammt meines Erachtens von Frauen, natürlich jungfräulich. Mindestens zwanzigjährig sollte sie jedoch sein.»

Die Frau hiess Anna. Anna war noch nicht ganz tot. Ihre Halsschlagader pumpte noch immer Blut in eine goldene Schale. Anna war zu schwach, um sich zu bewegen. Sie schaute auf die Männer mit einem Blick, welcher Angst und Unverständnis widerspiegelte. Langsam schwanden ihre Sinne. Und es wurde Nacht. Es war jene Nacht, die den Tod Willkommen heisst.

Zedekia stellte sein Glas zur Seite und griff nach der Schale mit dem Blut. Er füllte deren Inhalt in eine kleine Weinkaraffe. Den Rest goss er sorgsam über den nackten Körper der Frau, als würde er Schokoladensauce über Vanilleeis verteilen. Dabei achtete er peinlich genau, dass kein Blut auf die langen und breiten Ärmel seiner tiefschwarzen Robe spritzte.

Schliesslich nahm er sein Glas und die Weinkaraffe und führte Jason zu einer Nische am Rande der unterirdischen, katakombenähnlichen Halle. Zwölf mächtige Säulen, je sechs in einer Reihe, stützten das hohe hochweiss getünchte Gewölbe, in dem sich das Licht der vielen, riesigen Stumpenkerzen gespenstisch reflektierte. Jede Kerze stand auf einem eigenen, hüfthohen Kerzenständer. Alle Kerzenständer waren aus mit Ornamenten reich verziertem Gusseisen gefertigt. Sie waren in einem exakt angeordneten Raster aufgestellt, welches nur in der Mitte der Halle durch den zwar grossen, aber in Anbetracht der Hallengrösse doch verloren wirkenden Altar unterbrochen wurde. In den Seitenwänden der Halle waren an jeder Seite fünf Sitznischen eingelassen. In eine dieser Nischen setzten sich die beiden Männer auf ein langes, samtiges Sitzkissen, das eine steinerne, in den Felsen geschlagene Bank bedeckte. Zedekia griff nach dem auf einem kleinen Beistelltischchen bereit stehenden Glöckchen und klingelte. Der Klang des Glöckchens widerhallte ungewöhnlich laut im hohen Gewölbe der Halle.

Eine schwere Eichentüre am fernen Ende der Halle öffnete sich widerwillig knarrend. Hässliche kleine Gestalten stürmten herein und warfen sich umgehend gierig auf die tote Frau. Es waren die Ghuls, sechs an ihrer Zahl. Mit ihren langen schmalen Zungen leckten sie genüsslich das Blut vom nackten Körper der Frau, um danach mit ihren spitzen Zähnen herzhaft zu zubeissen. Die Ghuls labten sich an ihrem Fleisch. Es war ein Festmahl, das ihr Herr für sie zubereitet hatte.

Der alte Zedekia lächelte und wandte sich fragend an seinen jüngeren Gefährten: «Du hattest meine Ghuls bisher noch nie gesehen?»

«Nein», erwiderte Jason wortkarg und schaute dem Mahl der Ghuls fasziniert zu, während er an seinem Glas nippte.

Im islamischen Kulturkreis sind Ghuls als Leichen fressende Friedhofsdämonen bekannt. Dies ist eine durchaus zutreffende Bezeichnung. Manche weitergehende Beschreibungen der islamischen Sekundärliteratur über Ghuls sind jedoch arg mit Halbwahrheiten gespickt. Da der Islam eine verhältnismässig junge Religion ist, hat er seine Erkenntnisse über Ghuls aus älteren fernöstlichen Religionen übernommen. Woher die Ghuls stammen, ist im Allgemeinen unbekannt. Manche vermuten, dass sie entartete Nachkommen Liliths seien.

Ghuls haben kaum mehr Verstand als Haustiere, konnten aber für einfache Dienste an Haus und Garten eingesetzt werden. Sie meiden, wie ihre Herren, das Tageslicht. Ihre Herren sind Vampire. Aber nicht irgendwelche Vampire. Nur die grossen und mächtigen Vampire können Ghuls beherrschen. Um willige Ghuls zu halten, muss man sie stets mit Zuckerbrot und Peitsche führen. Mehr jedoch mit Peitsche als mit Zuckerbrot.

Man sagt, dass die Vampire Liliths grosser Stolz seien. Aber kaum ein Vampir hatte Lilith je zu Gesicht bekommen. Die Augen des alten Zedekias hatten schon viel gesehen, auch Lilith. Von allen ihm bekannten Vampire – und er kannte viele – war er der grösste und mächtigste. Doch seine Tage waren gezählt. Bald würde ein jüngerer kommen und ihn vom Thron stossen. Insgeheim hoffte er, es würde Jason sein. Und er hoffte, Jason würde es kurz und schmerzlos tun. Der alte Mann hing nicht mehr an seinem Leben. Zu viele Jahrhunderte hatte er schon gelebt. Und nicht einer dieser Tage hätte man als Leben bezeichnen können. Das einzige, was ihn an diesem Leben hielt, war die Unsicherheit, was danach kam. All die Jahre versuchte er zu erforschen, was ihn nach dem Tode erwarten würde. Doch der Tod war so weit von ihm als Untoter entfernt, wie von einem lebenden Menschen. Der Tod hatte ihm sein Geheimnis nie offenbart. Falls jedoch die alten Schriften stimmten, würde es noch schlimmer sein, als sein jetziges Dasein. Doch es gab nichts mehr, was ihn mehr anekelte als dieses Leben als Untoter. Er hatte es erlebt, viel zu viele Jahrhunderte schon. Und er hatte es nie genossen, höchstens geduldet. Es gab keinen Vampir, der sein Leben genoss und es würde auch nie einen geben.

Die Ghuls hatten mittlerweile ihr hektisches Mahl beendet. Es schien kaum Fleisch übrig geblieben zu sein. Sie stritten sich noch um die letzten paar Happen.

Zedekia stand auf und begab sich zum Altar, wo die Überreste der Frau ein Schlachtfeld der abscheulichsten Art boten. Jason folgte ihm und stellte dabei sein mittlerweile leeres Glas auf einen freien Rand des Marmorblocks.

Zedekia machte eine ungewöhnliche Bewegung in seinen Augenwinkeln aus. Es ging sehr schnell, viel schneller, als er erwartet hätte. Ein Ghul, geschweige denn ein Mensch, hätte es mit blossem Auge nie verfolgen können. Nur die flinken Augen eines mächtigen Vampirs nahmen es wahr. Jason, der jüngere Vampir hatte blitzschnell nach einem in der Mitte durchgebrochenen Oberschenkelknochen gegriffen und rammte diesen dem alten Vampir mitten ins Herz. Derart gepfählt brach Zedekia umgehend kraftlos zusammen.

Erst jetzt nahmen die Ghuls schockiert das Geschehene war. Jason fegte mit einer schnellen Handbewegung den Altar leer und legte den Körper des alten Vampirs darauf. Dieser war aber noch nicht tot. Im Gegensatz landläufiger Annahmen wird ein Vampir durch Pfählung nur seiner Kraft beraubt, nicht aber getötet. Jason wusste es. Und er wollte Zedekia nicht weiter leiden lassen. Das war er seinem Lehrmeister schuldig. Wie aus dem nichts zog er aus seinem langen Gewand ein rasierklingenscharfes Schwert hervor und schlug dem alten Vampir mit einem kräftigen Schlag den Kopf ab. Zedekias Körper begann zu leuchten. Er schien von innen heraus zu verglühen. Blaue helle Flammen schossen empor. Die Ghuls schlossen geblendet die Augen und wichen stolpernd zurück. Das unnatürlich gleissend helle Licht strahlte wie die Feuersbrunst einer kleinen Sonne. Es erstarb jedoch so schnell wie es entstanden war. Übrig blieb ein Häufchen Asche. Die typischen sterblichen Überreste eines Vampirs.

Es ist nicht das Licht der irdischen Sonne, das einen Vampir tötet. Die Enthauptung eines Vampirs entfacht in ihm eine Art kleine Sonne, die ihn dann tötet. Der Irrglaube, dass es das Sonnenlicht selbst sei, das einen Vampir töten könne, stammte erst aus dem im Jahre 1921 erschienen Stummfilm Nosferatu.

Die Ghuls überwanden langsam ihren Schrecken und umkreisten Jason angriffslustig. Sie wollten den Tod ihres Herrn rächen. Doch Jason wusste, wie er mit den Ghuls umzugehen hatte. Er hatte sich das Wissen angeeignet, ohne dass sein alter und nun toter Lehrmeister es je erfahren hatte. Blitzschnell griff Jason alle sechs Ghuls gleichzeitig an. Doch der Angriff erfolgte nicht in dieser Welt. Hier hätte er kaum eine Chance gegen sechs Ghuls gleichzeitig gehabt. Jason griff sie in der geistlichen Welt an. Vor dem geistlichen Auge fühlte sich jeder Ghul von einer Feuerwand umschlossen. Panik ergriff sie und sie verloren dadurch die irdische Wahrnehmung fast gänzlich. Durch die Feuerwand nahmen sie eine schwarze Gestalt wahr. Und diese sprach befehlend: «Ihr seid mein Eigentum. Ihr werdet mir gehorchen.»

In Wahrheit war dies Jasons Stimme. Dann trat Jason auf den ersten der Ghul zu und berührte ihn mit der flachen Hand an der Stirn. Sofort stürzte dieser gequält schreiend zu Boden. Jason ging auf den nächsten zu und berührte ihn ebenso. Auch dieser stürzte Höllenqualen leidend rücklings zu Boden. Und so tat es Jason mit jedem weiteren. In den Augen der Ghuls trat die schwarze Gestalt durch die Feuerwand, berührte ihr Hirn durch die Schädeldecke hindurch und löste dadurch unerträgliche Schmerzen aus. Diese Qualen klangen nur langsam ab. Genau so langsam lösten sich die Feuerwände auf und die Ghuls nahmen wieder die irdische Welt wahr. An Stelle der schwarzen Gestalt stand Jason. Er wiederholte nun nochmals für jeden Ghul deutlich hörbar seine Aussage: «Ihr werdet ab jetzt mir gehorchen.»

Sie nickten zögernd und völlig verängstigt.

Jason ergriff die goldene Schale, in der zuvor das Blut der Frau gefasst wurde, und drehte sie um. Was er auf deren Unterseite las, entlockte ihm ein zufriedenes Lächeln.

«Bringt mir die Überreste des Frauenkörpers in einer Schachtel ins Arbeitszimmer. Und putzt hier alles auf! Es soll wieder alles glänzen.»

Mit diesen Worten verliess Jason, die goldene Schale noch immer in der Hand haltend, das Kellergewölbe und stieg hoch ins Arbeitszimmer seines Lehrmeisters. Er wollte sicherstellen, dass die sterblichen Überreste der Frau gefunden und identifiziert würden. Jason wusste, dass nichts den Angehörigen der Frau über ihren für immer mysteriös bleiben Tod hinweghelfen würde. Aber die Klarheit über ihren Tod an sich würde immer noch besser sein, als die ewige Ungewissheit.

Die goldene Schale würde er jedoch mit sich nehmen. Nur wenige wussten von ihrer Wichtigkeit.

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